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„Bin ich normal?? Ist das nicht normal, oder?“

Der philosophische Ausbruch eines Therapeuten


Hintergrund einer Tafel mit der Frage „Bin ich normal?".

In der Psychotherapie und im Coaching stolpere ich mehrmals täglich über die Frage: "Bin ich normal?", "Ist das normal?", "Es ist nicht normal, oder?". Um mir und meinen geschätzten Klient:innen Zeit und Geld zu sparen, schreibe ich meine Position dazu einmal deutlich und klar nieder. Gerne kann der Text an alle weitergegeben werden, die dieses Wort häufig benutzen.


Mal ehrlich, was ist eigentlich „normal“? Normal ist nur ein Durchschnitt – wie die T-Shirt-Größe M, irgendwo zwischen S und XXL. Ein häufig vorkommender Wert auf einer Skala. Jetzt stell dir vor, wir streben alle nach Normalität, was bedeuten würde, dass wir alle Größe M tragen müssten, weil das angeblich die „richtige“ oder „normale“ Größe ist. Kannst du dir diese Welt vorstellen? Für manche wäre das wie ein Wurstpellen-Abenteuer – das garantiert platzt! Für andere, wie Kinder, wäre es ein schickes Ein-Mann-Zelt. Siehst du, wie absurd das ist? Wir alle haben unsere eigene Größe, und genau das macht uns einzigartig – und auch ziemlich schön und interessant! Aber woher kommt dann dieses starke GLAUBEN an die Normalität?



Der Ursprung von Normalität und die Idee des Durchschnitts


Das Konzept der Normalität ist tief in unserem gesellschaftlichen und psychologischen Denken verankert, doch bei näherer Betrachtung offenbart sich, dass diese Idee eher ein Konstrukt als eine objektive Realität ist. Der Begriff „Normalität“ entstammt dem lateinischen Wort normalis, was „regelgerecht“ oder „nach Maß“ bedeutet. In diesem Ursprung liegt bereits ein Problem verborgen: Was ist die Maßregel, an der wir uns orientieren? Wer legt sie fest, und wie gerechtfertigt ist es, diese auf alle Menschen gleichermaßen anzuwenden?


Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „Normalität“ durch die Entwicklung der Statistik populär, insbesondere durch die Arbeiten von Adolphe Quetelet, einem belgischen Mathematiker. Quetelet führte das Konzept des „Durchschnittsmenschen“ ein (l’homme moyen), um gesellschaftliche Phänomene mathematisch zu beschreiben. Durch diese Perspektive wurde der Durchschnittswert nicht nur als mathematische Größe, sondern als Idealbild interpretiert. Doch diese Herangehensweise führt zu einem grundlegenden Missverständnis: Der Durchschnitt repräsentiert nicht das Individuum, sondern lediglich eine abstrakte, statistische Zusammenfassung einer Gruppe.


Der Durchschnitt wird oft als eine Norm angesehen, der man sich annähern sollte. Doch was bedeutet dieser Durchschnitt für ein Individuum? Psychologisch betrachtet: nicht viel. Kein Mensch entspricht exakt dem Durchschnitt, und das Leben jedes Menschen ist geprägt von einzigartigen Kombinationen von Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfahrungen. In diesem Sinne ist der Durchschnitt ein Konstrukt, das uns zwar hilft, gesellschaftliche Trends zu verstehen, das jedoch keine Aussage über die „Normalität“ oder den Wert eines einzelnen Lebens machen kann.



Das Spektrum der menschlichen Vielfalt


Ein zentraler Fehler des Konzepts von Normalität liegt darin, dass es Diversität ignoriert. Menschen bewegen sich nicht innerhalb eines starren Rahmens, sondern in einem breiten Spektrum von Erfahrungen, Verhaltensweisen und Identitäten. Jeder Versuch, Normalität zu definieren, läuft Gefahr, die Komplexität dieses Spektrums zu reduzieren und eine unfaire Hierarchie zu schaffen, die Abweichungen als „abweichend“ oder „problematisch“ wertet.

Aus psychologischer Perspektive führt diese Fixierung auf Normalität oft zu negativen Konsequenzen. Menschen, die sich selbst als „unnormal“ wahrnehmen, können Scham, Angst oder den Druck erleben, sich an die vermeintliche Norm anzupassen. Doch dieser Druck basiert auf der Illusion, dass die Mehrheit, die sich einem Durchschnitt annähert, ein höherer Maßstab sei. Tatsächlich hat das, was die Mehrheit macht, für das Leben eines Individuums keine direkte Bedeutung. Es gibt keinen Grund, warum eine Mehrheit die Maßregel für das individuelle Glück oder die persönliche Entwicklung sein sollte.



Die narzisstische Illusion des Überdurchschnittlichen


Neben dem Streben nach Normalität zeigt sich in der Gesellschaft eine ebenso problematische Tendenz: die narzisstische Illusion, dass Überdurchschnittlichkeit stets besser sei. Dieser Wunsch, besser, außergewöhnlicher oder einer besonderen Elite anzugehören, entspringt oft einem tiefen Bedürfnis, die eigene Verletzlichkeit zu kompensieren. Menschen, die sich diesem Denken hingeben, meiden häufig die Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen von Unzulänglichkeit oder kindlicher Verletzung. Stattdessen suchen sie Bestätigung in der Abgrenzung von anderen, um sich von einer vermeintlichen Mittelmäßigkeit zu distanzieren. Doch dieses Streben führt nicht zu echter Selbstakzeptanz, sondern verstärkt die innere Leere, da es auf einem Vergleich mit anderen basiert, der niemals die eigenen, tieferen Bedürfnisse nach Annahme und Heilung stillen kann. Indem wir diese Illusion erkennen, können wir uns vom Zwang befreien, uns über andere zu stellen, und stattdessen authentische Verbindungen aufbauen, die unsere Menschlichkeit würdigen.



Diversität als psychologische Realität


Die moderne Psychologie hat erkannt, dass Diversität die Grundlage menschlicher Erfahrung ist. Menschen unterscheiden sich nicht nur in Persönlichkeitsmerkmalen, sondern auch in ihren kulturellen Hintergründen, neurologischen Veranlagungen, körperlichen Fähigkeiten und sozialen Rollen. Diese Unterschiede sind keine Abweichungen von einer Norm, sondern Ausdruck des Reichtums menschlicher Existenz.


Es ist wichtig, anzuerkennen, dass die Idee von Normalität oft von Machtstrukturen geprägt wird. Was als normal gilt, wird häufig von denjenigen definiert, die in der Gesellschaft dominieren. Dies führt zu einer Marginalisierung von Menschen, die nicht in dieses eng gefasste Konzept passen, und verstärkt bestehende Ungleichheiten. Indem wir das Konzept der Normalität hinterfragen, können wir eine inklusivere Perspektive einnehmen, die Diversität nicht als Abweichung, sondern als natürlichen Zustand anerkennt.



Schlussfolgerung


Normalität ist ein Mythos. Der Durchschnitt, auf dem dieses Konzept basiert, ist lediglich ein statistisches Werkzeug, das keine Aussage über das Individuum trifft. Menschen existieren in einem Spektrum von Möglichkeiten, und ihre Einzigartigkeit kann nicht durch die Normen der Mehrheit gemessen werden. Psychologisch betrachtet liegt der Wert eines Individuums nicht in seiner Übereinstimmung mit einer fiktiven Norm, sondern in seiner Fähigkeit, authentisch und in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Indem wir uns von der Illusion der Normalität lösen, öffnen wir den Weg für ein tieferes Verständnis und eine größere Wertschätzung der menschlichen Vielfalt.

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